Was ist eigentlich Outdoor Erste Hilfe? – Lasst euch keinen Stock ans Bein binden!

Seitdem wir Hinterland Medics gegründet haben, kommen Merten und ich öfters in die Verlegenheit unseren Mitmenschen zu erklären, was wir eigentlich genau machen. Die auf der Hand liegende Antwort: „Expeditions- und Wildnis Medizin für Leute, die gern draußen unterwegs sind“ lässt die Gesichter allerdings nicht mit Erkenntnis aufhellen, sondern zaubert oftmals noch mehr Fragezeichen. Wir können förmlich dabei zusehen, wie das Gehirn unserer Gegenüber hochfährt, bis die Überlegungen in einem Aha-Moment gipfeln und wir den Satz: „Also, wenn man sich ein Bein gebrochen hat, zeigt ihr, wie man das mit einem Ast schienen kann“ zu hören bekommen.

Diese Antwort ist nicht ganz richtig. Schließlich kombiniert sie eine Erste-Hilfe-Maßnahme mit Natur. Aber du müsstest im Wald unterwegs sein (in den Alpen hätten wir schon keine Bäume mehr) und idealerweise auch noch zu zweit. Dann müsstet ihr die 20 Minuten, die es braucht, um eine Schiene richtig zu bauen, mit dem Organisieren weiterer Hilfe gegenrechnen. Das sollte sich lohnen. Damit wird der effektive Anwendungsbereich der Stockschiene wesentlich kleiner. Dazu kommt blöderweise noch, dass fast alle dieser improvisierten Schienen, die ich bis jetzt gesehen habe, ihr Ziel verfehlen. Sie immobilisieren oft schlecht und senken damit kaum Schmerzen. Salopp gesagt, stellen sie eher ein fotogenes Modeaccessoire dar.

Hiermit drängt der Satz mit dem gebrochenem Bein und dem Ast die Outdoor Erste Hilfe direkt auf eine Spielwiese zwischen leicht verrückte Nerds und Waldschrate. Zumindest den Nerdteil würden Merten und ich unterschreiben. Aber mit einfach mal einen Stock dran bauen ist die Sache auch nicht getan.

Denn eigentlich heißt Outdoor Erste Hilfe nur deswegen so, weil Menschen in der Natur sich zwangsläufig häufiger mit medizinischen Problemen konfrontieren.

Dabei ist es stressfreier und der Unternehmung dienlich, sich selbst zu versorgen. Man könnte das Ganze auch erweiterte Erste Hilfe oder medizinische Alltagshilfe nennen. Wobei der erste Begriff schon belegt ist und Alltagshilfe an vielen Stellen dann doch zu kurz greift. Alltäglich ist es dennoch, kommt es zwangsläufig zu einer sich selbst verstärkenden Spirale durch medizinische Kenntnisse. Diese sickern dann unbemerkt in viele Lebensbereiche ein. Denn umso mehr Problemen ich selbstständig mit einer Lösung begegnen kann, umso mehr nehme ich größeren Unternehmungen die Aura der Unmöglichkeit. Gleichzeitig hilft ein minimales Grundwissen dramatisch gegen aufkommende Hilflosigkeit bei Konfrontation. Das haben alle Disziplinen gemein, egal ob das jetzt Wildnis Medizin, Kochen oder Heimwerkern ist. Es ist auch sehr belohnendes Gefühl, nicht mehr wegen einer Zecke, einer kleinen Verbrennung oder Wunde zum Arzt rennen zu müssen. Oder einfach zu wissen, wann du besser mal zum Arzt gehen solltest. Als plakatives Beispiel hierfür: Weißt du, wie sich ein Herzinfarkt bemerkbar macht? Schließlich stirbt in Deutschland jeder dritte Mensch daran und einen guten Teil könnte man durch frühzeitiges Erkennen und Behandeln verhindern (1).

Als Grundgedanke, was denn bei Hinterland Medics jetzt unter Outdoor Erste Hilfe läuft, haben wir uns also Statistiken wie diese hier angeschaut:

Statistik über Wildnis Medizin Probleme bei Expeditionen

 Im nächsten Schritt haben wir uns überlegt, wie man diese Probleme in der Natur elegant lösen kann. Dabei gilt zu beachten, dass grundlegende Verletzungsmuster und Krankheiten immer die gleichen Erstmaßnahmen benötigen. Egal ob draußen oder in den eigenen vier Wänden. Bei Durchfall ist es elementar, ausreichend Flüssigkeit, Elektrolyte und Glucose zuzuführen. Lediglich die Beschaffung des Wassers unterscheidet sich hier grundlegend. Und so haben wir eine relativ große Schnittmenge von der Behandlung kleiner Wunden über Erkältungskrankheiten bis zur Behandlung von Sportverletzungen. Probleme, die uns auch abseits unserer Abenteuer begegnen. Aber nochmal speziell im Outdoor-Kontext aufbereitet. Abgesehen von der grauen Theorie haben wir zusätzlich Heimvorteil, da wir sowohl persönlich als auch in der Teamleiterfunktion bei Wandermut eine Menge grober Touren bestreiten. Dort prüfen wir unsere Ansätze auf Herz und Nieren und passen unsere Maßnahmen an den rauen Expeditionsalltag an.

Der zweite Aspekt sind lebensrettende Sofortmaßnahmen.

Derartige Probleme treten zwar selten auf, aber wenn du dann nicht unmittelbar richtig handelst, sterben die Verunfallten im schlimmsten Fall. Die Kombination aus beiden macht sie so gefährlich. Also haben wir den weltweit verbreiteten xABCDE-Algorithmus genommen, welcher zum schnellen Erkennen und Behandeln lebensbedrohlicher Zustände dient. Innerhalb dieses Schemas sind alle gängigen Probleme der Ersten Hilfe abgebildet. Von spritzenden arteriellen Blutungen, über verlegte Atemwege, bis hin zu Bewusstseinsstörungen oder Umwelteinflüssen. Es ist alles vertreten, was uns schnell den Löffel abgeben lässt. Diesen Algorithmus haben wir für Laien aufgearbeitet und Merten hat dem Ganzen eine Didaktik verpasst, welche dieses Wissen bei Bedarf selbst in Stresssituationen auch nach Jahren noch anwendungsbereit in die grauen Windungen klicken lässt.

An diesem Punkt fangen wir an, unseren inneren Nerd (=Bezeichnung für an Spezialinteressen hängende Menschen) auszuspielen.

Merten brennt wie kein zweiter für das Thema der Wissensübertragung und ist ständig dabei, diese zu optimieren. Eigentlich ist er ja hauptberuflich Lehrer und bildet leidenschaftlich Schulsanitäter und Jugendgruppen in Erste Hilfe aus. Jedes Mal, wenn Merten ein neues didaktisches Konzept ausprobiert und feststellt, dass die Ergebnisse seiner Schützlinge besser sind als zuvor, bekommt er ein Leuchten in den Augen, was man sonst nur von dreijährigen Kindern an Heiligabend kennt.

Ich mache seit über 10 Jahren Medizin. Nicht weil ich muss, sondern weil ich Bock drauf hab. Dabei habe ich eine kleine Reise vom Rettungsdienst über Physiotherapie, Kräuterheilkunde und Gurus in Fernost hinter mir. Und schlussendlich im Medizinstudium mündete. Immer auf der vorurteilsfreien Suche nach dem, was funktioniert.

Das gemeinsame Nerd-Thema ist das Draußen sein im Extremen. Unser Herz schlägt für all das, was man landläufig unter Outdoormasochismus zusammenfasst. Aufenthalte weit weg im Hinterland, wochenlang abseits der Zivilisation, gern in lebensfeindlichen Umgebungen. Und diesen Anspruch legen wir auch an unsere Kurse. Wir nehmen als Grundlage nicht die Alpen oder den deutschen Forst, sondern den Pamir oder den Amazonas. Wir nehmen also unsere „Alltagsprobleme“ und die Notfälle und verfrachten das Ganze jetzt noch in eine Situation, wo man Stunden bis Tage für sich selbst sorgen muss. Denn das sind die spannenden Szenarien, die uns beide persönlich riesig interessieren. Natürlich kann man das dann auch wieder auf hiesige Gegebenheiten herunterskalieren. Aber Inhalte wie was gehört in eine Expeditionsapotheke oder ein Outdoor Erste-Hilfe-Set, wie helfe ich oder organisiere Hilfe, wie baue ich ein Notfallbiwak machen uns einfach Spaß. Besonders, wenn wir sie (leicht übertrieben 😉 ) auf dem Abgeschiedenheitslevel Antarktis lösen.

Für uns ist das alles Wildnis Medizin.

Wie Max, der nach unserem Kurs beim Golfen den Herzinfarkt seines Vaters erkannt und ihn direkt ins Krankenhaus gebracht hat. Oder Matti, der in Thailand einen Verkehrsunfall mit 5 Personen abgearbeitet und einer Person mit kritischer Blutung potenziell das Leben gerettet hat. Oder Isi, die in der Sahara fantastisches Blasenmanagement betrieben hat und so einige Mitstreitende vor der Evakuierung bewahren konnte. Es sind medizinische und Outdoor-Skills, welche einem das Leben retten oder angenehmer machen, Träume in Ziele verwandeln und den Horizont über den eigenen Tellerrand verschieben.

Was das Ganze allerdings nicht ist: ein Stock am Bein. 😉 

(1) Todesstatistik Deutschland

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