Was macht ein Expedition Medic bei Wandermut?

Wandermut aus medizinischer Perspektive

„Wir haben einen Notfall!“, brüllt einer aus der Gruppe. Mit
einer Wandermut Expedition sind wir mehrere Tage in den Dschungel vorgedrungen. Die Vegetation ist so dicht, dass sich selbst zur Mittagszeit ein schummriger Schleier über das modrig riechende Unterholz legt. „Markus hat sich mit der Machete ins Bein gehackt und blutet wie verrückt!“. In Windeseile schiebt sich eine Traube Menschen zum Ort des Geschehens. Kurz angebunden werden Anweisungen geblafft, unter den Händen sickert Blut in den ohnehin gesättigten Dschungelboden. Es wird gestopft, verbunden, beruhigt, Vitalparameter erhoben und die Evakuierung geplant. Alles in Kinoreifen 10 Minuten. Dann hören mich alle „Stopp!“ rufen. Es folgt ein Dank an alle Beteiligten für diese Übung.

Damit gehen wir in einer der regelmäßigen Erste-Hilfe Weiterbildungen für Wandermut Teamleiter in die Nachbesprechung. Wir erörtern, was gut lief, wo es Hänger gab, ob Maßnahmen und Diagnostik zum richtigen Zeitpunkt erfolgten. Dann besprechen wir, wie man derartige Notfälle in Zukunft noch effektiver abarbeiten könnte.

Nachbesprechung eines Fallbeispiels im Rahmen einer Erste Hilfe Weiterbildung für Wandermut.
Fallnachbesprechung bei einer Weiterbildung für Wandermut

Alle, die bei Expeditionsmedizin die anfängliche Dschungelszene vor ihrem geistigen Auge hatten, muss ich an dieser Stelle direkt enttäuschen. Natürlich kann es auch mal zu so einer Situation kommen.
Aber die größten Bemühungen fließen in die Vermeidung solcher Horrorszenarien. Denn in der Expeditionsmedizin geht es, wie bei Wandermut, überwiegend um Prävention. In diesem Artikel möchte ich beispielhaft einmal durch zwei Tage führen, um euch einen kleinen Einblick in meine Arbeit als Expedition Medic zu ermöglichen.

 

Tag 1, Home-Office

Der Wecker klingelt, es ist 7:00. Mutig schalte ich ohne Snooze den Wecker aus. Dabei stelle ich fest, dass der Tag direkt mit einem vollen WhatsApp-Postfach beginnt. Der helle Bildschirm brennt mir versandete Füße und eine Risswunde an einem schlecht identifizierbaren Körperteil in die Netzhaut. Zuletzt lese ich noch kurz die Frage, ob bei Durchfall nicht doch Antibiotika sinnvoll sein könnten. Seufzend gehe ich pinkeln und mach mir erstmal einen Kaffee. Im Kopf schreibe ich nebenbei To-do-Liste. Ein langer Tag steht bevor.

Risswunde und geschwollene Füße

Telemedizin

Kaffee schlürfend, bearbeite ich direkt die Fragen. Der Fuß ist angeschwollen, ein Ermüdungsbruch steht im Raum. Ich fordere einen genaueren Symptomverlauf samt Krankengeschichte und Bilder von sandfreien Füßen an. Dann erkläre ich ein paar Tests und Druckpunkte und empfehle im „Schwarzwaldklinik“-Style: Schonung. Gleichzeitig erinnere ich mich selbst an das geplante Seminar zur vernünftigen Wunddokumentation, welches ich endlich mal für Wandermut vorbereiten und halten sollte.

Die Risswunde wurde in der Zeit versorgt. Ich bekomme neue Bilder von einer sexy getapten Wunde. Ich lobe die Steristrips und gebe
Hinweise zur antiseptischen Versorgung, Wundkontrolle und Verbandswechsel. Erfrage den Tetanusstatus und wo denn jetzt die Wunde genau liegt. Ich schreibe „Wunddoku-Seminar“ auf einen Zettel.

Versorgte Risswunde auf einer Wandermut Expedition.
versorgte Wunde am immernoch fraglichen Körperteil

Erstellen von SOPs

Einen großen Schluck Kaffee später suche ich mir die aktuelle Leitlinie zu Durchfall heraus. Dann beginne ich mit einer gemütlichen halben Stunde Selbststudium. Eigentlich wollte ich pauschal zurückschreiben, dass außer in seltensten Fällen prinzipiell keine Antibiotika sinnvoll sind (1). Bei dieser Anfrage wäre das auch die korrekte Vorgehensweise gewesen. Allerdings fand ich in der Leitlinie ein besseres Schema zur Unterscheidung zwischen „normalen“ und „schlimmen“ Durchfall, welche ich zusammen mit ein paar
Therapieempfehlungen in unsere internen Unterlagen aufnahm.

Erst im letzten Jahr ist bei mir so richtig das Bewusstsein entstanden, wie schwierig es ist immer auf dem aktuellen Stand zu sein. Schon allein dafür lohnt es sich, Zeit in die eigene Fortbildung zu investieren. Zusätzlich hat mich dieses Verhalten schon oft davor bewahrt, veralteten Blödsinn zum Besten zu geben.

 

Weiterbildungen

Zufrieden lehne ich mich mit dem letzten Schluck zurück, als schon Paddy von der Wandermut Zentrale anruft. Wir besprechen die nächste Weiterbildung. Wo ich im letzten Jahr Verbesserungsbedarf gesehen habe, was ihm aufgefallen ist, was wir für Feedback von den Wandermut Teamleitern bekommen haben. Heraus kam eine gesunde Mischung aus Theorie und Praxis. Beginnend mit der obligatorischen Wiederholung von x und A (Blutungen und verlegte Atemwege) aus dem xABCDE Schema. Dem folgt eine Wiederholung des diagnostischen Ablaufs und der Entscheidungskriterien, wann eine Evakuierung erfolgen muss. Nach einer
Mittagspause soll es dann in den Wald gehen. Dort werden wir Fallbeispiele, wie das oben beschriebene, durchführen und auswerten.

 

medizinische Ausrüstung

Anschließend plaudern wir noch ein bisschen über die Wandermut Apotheke und die Materialanpassungen, die sich aus den letzten Weiterbildungen ergeben haben. Wie immer in der freien Wirtschaft hat dieser Prozess Haare auf den Zähnen. Denn zusätzliches medizinisches Equipment kostet Geld. Allerdings habe ich mittlerweile diese Art Diskussionen zu schätzen gelernt. Oft wird man bei der ganzen Vorbereitung auch ein bisschen betriebsblind und in der Diskussion über die jeweilige Sinnhaftigkeit fliegt dann einiges an medizinischer „Überversorgung“ wieder über Bord. Denn die Anforderungen an ein Erste Hilfe Set, welches effektiv und einfach anzuwenden ist und bei geringen Packmaß und Gewicht alle relevanten Notfälle abdeckt, sind enorm.

Nach der Diskussion überarbeite ich als letzte Tagesaufgabe noch schnell die Materiallisten. Damit will ich gerade in den Feierabend gehen, wenn mein Telefon nochmal klingelt. Neue Informationen und Bilder zum Ermüdungsbruch. Anhand der Krankengeschichte und der Symptome ist dieser eher unwahrscheinlich. Ich schaue auf die Bilder, sehe wieder eine Menge Sand, nehme mir meinen Zettel und umkreise mehrmals den Punkt Wunddokumentation. Doch das ist jetzt ein Problem von Morgen.

 

Tag 2, Auf Wandermut Tour

Blick über die Sahara

Szenenwechsel. Wandermut Tour in der Sahara. Der Wecker klingelt pünktlich zum Sonnenaufgang um 6:00. Fröstelnd wische ich mir Sand aus dem Gesicht. Am Vorabend konnten wir wegen des Sandsturms keine Zelte aufbauen und kauerten uns hinter unsere Rucksäcke als Windschutz. Die Nacht war entsprechend ungemütlich, aber kostenloses Peeling ist immer gut. Beim Pinkeln stolpere ich fast über einen Skorpion. Dann kitzeln die ersten Sonnenstrahlen meine Nase, ich niese, sandbrauner Schleim kommt hoch. So fühlt sich Leben an! Der Rest der Gruppe schält sich aus den Schlafsäcken, der Duft von frischem Shakshuka belebt die wunderschöne Einöde. Beim Frühstück besprechen wir noch einmal die heutige Route. Dann versorge ich visitenartig ungefähr 30 Blasen an Füßen der Teilnehmer:innen. Große Blasen, kleine Blasen, tiefe Blasen und mein persönlicher Alptraum: Blasception. Das sind Blasen unter alten Blasen. Tief, schmerzhaft und mit großem Potenzial zu Infektionen. 

 

Versorgung einer Blase auf der Wandermut Sahara Tour
Versorgung einer blutigen Blasception Blase

Wir haben Tag Acht und obwohl wir aus Materialmangel mittlerweile alle unsere Erste Hilfe Utensilien teilen, müssen wir heute anfangen zu improvisieren. Wir legen Zehenverbände aus abgeschnittenen Handschuhfingern, benutzen die halb sterile Plastikverpackung von Kompressen, selbst Gaffatape kommt zum Einsatz. 

Danach gibt es noch einen großen Schluck Instant Kaffee. In der Zivilisation würde ich das Zeug nicht mit einem Stock anfassen, hier draußen ist es schwarzes Gold. Wir starten etwas steif in den Tag, aber nach einer Stunde sind alle warmgelaufen und wir ziehen das Tempo an. Denn in kürzester Zeit wird aus einer angenehmen Wärme eine klebrige Hitze. Heute geht es besonders schnell, wir laufen durch einen Kessel aus Tafelbergen. Die Felsen konzentrieren die Sonnenstrahlen wie ein Parabolspiegel im Tal. Es hat schmelzende 43 Grad.

Tal zwischen Tafelbergen auf einer Wandermut Tour in der Sahara.
Tal zwischen Tafelbergen
Notfallbehandlung

Während ich mir überlege, ob jetzt ein Sandsturm kühlen und damit alles besser, oder einfach nur schlimmer machen würde (Insgesamt macht ein Sandsturm Dinge schlimmer. Er kühlt nicht, sondern bläst dir einfach wie ein Föhn heiße Luft ins Gesicht) klappt ein Teilnehmer neben ein paar Büschen zusammen. Er ist ansprechbar, leicht verlangsamt und fühlt sich schwach. Verletzt hat er sich nicht, giftiges Viehzeug ist weit und breit nicht zu sehen. Ich fühle die Temperatur, messe den Puls und schaue auf die Durchblutungssituation. Durchfall hat er keinen, genug getrunken hat er auch. Ich dachte beim Temperatur fühlen schon, dass es sich hierbei um einen Hitzschlag handeln könnte. Das Thermometer bestätigt wenig später meinen Verdacht mit einer Temperatur von stolzen 40 Grad. Wir legen ihn flach in den Schatten der Büsche, öffnen seine Kleidung und kühlen aktiv mit Wasser am Kopf, Brustkorb und in den Leisten.

Zwangspause für die Gruppe, die sich nach anfänglicher Besorgnis über die Erholung freut. Ich verfolge den Erfolg unserer Kühlung durch die Pulsfrequenz und nach 15 Minuten messen wir noch einmal Temperatur. Die ist in der Zeit auf 38 Grad gesunken und nach einem weiteren halben Liter Wasser machen wir uns gemäßigter wieder ans Wandern. Dabei gibt es direkt noch einmal eine Belehrung an die Gruppe, auf Symptome zu achten und nicht den Helden zu spielen.

 

Prävention on Tour

Durch die Temperaturen ändern wir unseren morgendlichen Plan, rasten zur Mittagszeit und genießen den Schatten, während um uns herum die Luft wabert. Dann starten wir mit einem motivierten „Wandermut ist Wanderwut“ in die letzte Etappe. Die Gegend wird felsiger, wir stolpern erschöpft über ein Geröllfeld. Egal wen man anschaut, alle fragen sich insgeheim, warum sie eigentlich gerade hier sind. Spaß sieht auf jeden Fall anders aus, alle kämpfen mit Erschöpfung, die Trittsicherheit lässt nach. Eine Teilnehmerin fängt an, zu singen. Nach und nach stimmen alle ein, unsere kollektive Laune wird von einer Aufwärtsspirale erfasst, die uns bis zu unserem Lagerplatz trägt. Der Pfefferminztee auf dem Teppich lässt uns beinahe die Strapazen des Tages vergessen. Ich wasche mich mit sorgfältig 100ml Wasser, um wenigstens fünf Minuten am Tag ein sandfreies Gefühl zu haben, dann wieder Blasenvisite.

 

Risikomanagement

Zum Abendbrot gibt’s den Pipistammtisch. Wir tauschen uns aus, wie oft jeder am Tag urinieren war. Am Anfang gibt es in den Gruppen immer etwas Scham, aber nach einer Woche reden wir übers Pissen und Scheißen, als wäre es ein deutscher Wetterbericht.

Pipistammtisch auf einer Wandermut Sahara Tour.
Pipistammtisch

Und auch nach einer Woche vergessen noch einige Teilnehmer, dass sie
sich in der Wüste befinden, was per se eine lebensfeindliche Umgebung
darstellt. Und so war eine Person lediglich am Morgen pinkeln. Ich
schaue ihn erst etwas strafend an, dann lächle ich und verordne Wasser
bis zum Wasserlassen. Sein Protest geht über die Diskussion von zwei
neuen Fällen Durchfall unter. Wir besprechen kurz die Symptome, dann
nehmen die Teilnehmer ihre eigenen Medikamente. Nicht, dass wir damit
den Durchfall behandeln (meist verlängern „Antidurchfallmittel“ die
Erkrankung sogar), sondern auch hier beugen wir dem Wasser- und
Elektrolytverlust vor. 

Vor dem Schlafengehen meldet sich nochmal der Teilnehmer mit einem
Mal pinkeln zurück. Stolze sieben Liter Wasser hat er getrunken, bevor
er in die Büsche musste. Das ist mehr als er Blut im ganzen Körper hat.
Zufrieden beende ich für heute die Druckbetankung und schaue verträumt
auf die Milchstraße, bevor mir die Augen zufallen.

 

(1) Leitlinie zu Gastrointestinalen Infektionen

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Torsten Kohlmann

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